Die junge Ukraine

Bei der Recherchereise mit dem NJB bekamen wir auch die Gelegenheit, uns mit Abgeordneten zu unterhalten, zum Beispiel mit Viktor Schwezj – dem „Vorsitzenden des Ausschusses für gesetzgebende Gewährleistung der Rechtsgestaltung“. Furchtbarer Titel. Ich würde ihn als Vorsitzenden des Rechtsausschusses im ukrainischen Parlament bezeichnen. Der Ausschuss beschäftigt sich im Wesentlichen mit Rechtsschutz und der Kontrolle der Rechtsorgane.

Die Ukraine hat eine Opposition und führt faire Wahlen durch. Sie versteht sich als Demokratie. Allerdings hat sie das System der Gewaltenteilung, das in westlichen Staaten üblich ist, bislang noch nicht adaptiert. So sind die Gerichte (Judikative) dem Präsidenten unterstellt sind, genauso wie die Polizei, die Miliz und auch der Generalstaatsanwalt. Das heißt: keine Spur von „Checks and Balances“.

In Hinblick auf das Arbeitspensum betont Viktor Schwezj: Der Rechtsausschuss habe mehr Arbeit als alle anderen Ausschüsse – „wir schaffen insgesamt nur ein Drittel“. Zahlenmäßig untermauert er: „Andere Ausschüsse bringen zehn Gesetzentwürfe im Jahr ein, wir kommen auf eine Zahl von 200“. In seiner Stimme schwingt ein bisschen Stolz mit.

Bei uns ist das ukrainische Parlament zuletzt ja vor allem durch prügelnde Abgeordnete aufgefallen (Link zum Video: http://www.youtube.com/watch?v=1xOaQBcVnfY).

Als Viktor Schwezj danach gefragt wird, windet er sich. Seine Erklärung: Es handele sich bei der Ukraine noch um eine „junge Demokratie“ und man müsse nun mal immer wieder „dynamische, konfliktreiche Situationen meistern“. Das Paradoxe: Auf der einen Seite sieht man sich selber als westlicher Staat – auf der anderen Seite ist man offenbar nicht in der Lage Konflikte mit Worten auszutragen… Viktor Schwezj sagt: „Wenigstens hat es für Aufmerksamkeit gesorgt.“ So kann man das natürlich auch sehen.

Er selber ist in der Opposition, das heißt in der Partei der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko. Er beklagt sich darüber, dass Ermittlungsverfahren gegen Parteikollegen liefen und dass Timoschenko jeden Tag für eine Anhörung beim Generalstaatsanwalt geladen werde. Insgesamt konstatiert ner: „Die Demokratie in der Ukraine ist bedroht.“ Trotzdem gehe es in dem Land vorwärts – allein in den nächsten Monaten würden zahlreiche Gesetze beschlossen, in Hinblick auf das Rechtssystem, aber auch beim Wohnungsbau und bei der kommunalen Wirtschaft.

Als es darum ging, dass zu wenige Frauen im Parlament säßen (von 450 Abgeordneten genau 36), schüttelte Viktor Schwezj nur den Kopf: „Sie werden halt nicht so gewählt“ – eine absurde Argumentation, schließlich werden sie in den meisten Fällen erst gar nicht aufgestellt. Das Alter der Abgeordneten variiert in der Ukraine im Übrigen zwischen 25 und 78 Jahren, so etwas wie Rente kennen sie offenbar nicht – was im Wesentlichen mit der ukrainischen Mentalität zu tun hat: Akademiker im hohen Alter genießen dort, genauso wie in Russland, hohes Ansehen.

Sind sie erst einmal jenseits der 60, gelten sie meist als: klug, weise und erfahren.

Deshalb wird ihre Meinung geschätzt, offenbar auch im Parlament. Von 45 Millionen Einwohnern sind 14 Millionen Rentner. 14 Millionen kluge Köpfe also. Damit haben uns die Ukrainer sogar etwas voraus. Denn wir erkennen das Potenzial unserer Rentner, meiner Meinung nach, noch viel zu wenig. Könnte genau dieses Potenzial stärker ausgeschöpft werden, wäre das zum Vorteil aller. Aber bis das erkannt wird, werden wohl noch einige Jahre vergehen…

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